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Trainingstheoriephilosophie - Es ist kompliziert. Oder?

Seit einigen Jahren verdiene ich meinen Unterhalt damit, Menschen verschiedenster Altersgruppen Parkour beizubringen. Und seit vielleicht einem oder zwei Jahren ist mir klar geworden, dass "Trainer" zu meinem Beruf geworden ist. Nun habe ich die Gelegenheit bekommen, über meine Tätigkeit und damit einhergehende Gedankenwelt zu schreiben und merke, ich weiß nicht so recht, wie ich anfangen soll. Eigentlich sollte mir das nicht besonders schwer fallen. Schließlich beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit Theorie und Praxis, die hinter dem stecken, was vermutlich immer noch vielen als “wildes Rumgespringe”, “Fassadenklettern”, “von Haus zu Haus springen” oder Ähnliches angesehen wird. Schon vor den Zeiten des Parkour.de - Forums (rip) glaubten Traceure zu wissen, dass Parkour sehr viel mehr ist, als das. Eine Kunstform. Eine Trainingsmethode, die einen zu einem besseren Menschen macht. Eine Disziplin, nicht unähnlich einer Kampfkunst. Training für den Notfall, wie auch immer dieser geartet sein mag. Für manche auch einfach ein Sport. So wie Fußball, nur anders. Andere wissen, Saltos dürfen es nicht sein.

Es scheint, Interpretationen und Definitionen von “Parkour” gibt es so viele wie Traceure. Freerunner? L’AdD-ler? Sucht man auf YouTube oder Instagram nach “Parkour” und hofft in den Videos Antworten auf die Frage zu finden, was Parkour eigentlich ist, stürzt man in totale Verwirrung. Je nachdem, wie lange man sich Zeit nimmt, sich durch clickbait und best-offs zu wühlen, stößt man auf Tricking-Videos, Videos mit einzelnen oder mehreren Standard-Salti in einem Run, Sprünge über Hochhausschluchten, Assassins Creed Parkour, Parkour im Weihnachtskostüm, Menschen, die an Geländern weder Saltos noch richtige Sprünge machen (Stangen Flow), Sprünge auf Bordsteinkanten, Sprungböden, Stangenhallen, … Und alle diese Menschen behaupten sie machen Parkour! Unmöglich!

Das Video, das mich zum Parkour gebracht hat.

Abgesehen von der Tatsache, dass manche dieser Videos (entscheide selbst, welche) den Parkourbegriff für Klicks und Views gebrauchen und dass in dieser Kategorie auftauchende Disziplinen wie Tumbling, Tricking, Breakdance und andere oberflächlich erstmal nichts mit Parkour zu tun haben, möchte ich dieser Diskussion an dieser Stelle nicht noch mehr Aufmerksamkeit widmen. Dafür aber etwas auf den fundamentalen Unterschied zwischen der Idee einer Disziplin - hier Parkour - und Training für eine Disziplin eingehen. 

In unserer Trainerausbildung erwähnen wir die Pyramide des Bewegungsrepertoires. Ähnlich dem Prinzip von leicht zu schwer besagt diese, dass komplexe Bewegungen auf leichten Bewegungen aufbauen. Und je stärker das Fundament dieser Bewegungspyramide, desto stabiler steht sie.

Die Pyramide des Bewegungsrepertoires

Ein Beispiel. Mit einer Rolle kann man einen (Vorwärts-) Salto lernen. Man geht, theoretisch, von Rolle zu Flugrolle zu Salto. Nun wissen die Meisten, die einen Salto beherrschen, dass sich diese Angelegenheit in der Realität etwas komplexer gestaltet. Wie gut ist die Rolle? Wie gut die Sprungkraft und -Technik? Orientierung in der Luft? 

Training bedeutet also die Qualität der Einzelaspekte zu verbessern, die sich wiederum auf die Qualität der Zielbewegung auswirkt. But wait, there’s more. Ein Salto aus dem Stand ist nicht das gleiche wie ein Salto auf dem Trampolin. Oder auf der Airtrack. Mit  Split-Foot - Absprung. Aus dem Stand. Mit Kicker. Von etwas, auf etwas (wie hoch?). Etc. 

Die Idee eines Saltos setzt sich aus einer Vielzahl an Technikaspekten und praktischen Anwendungen zusammen. Es ist also ein weiter Weg von “zum ersten Mal geschafft” zu “absolute Beherrschung”.

Mehr als nur “ein Frontflip”

Jetzt machen wir unsere Pyramide noch zu einer paradoxen, im dreidimensionalen Raum unmöglichen Figur. Denn ich behaupte, der Vergleich hinkt. Bewegungen bauen  nicht immer logisch aufeinander auf, wie der Stein in der Pyramide, der auf den unteren aufliegt. Außer in unserer Frontflip-Pyramide ist Platz für Fallerfahrung auf allen möglichen Untergründen, aus allen möglichen Gründen. Handstände. Jahre an Sprungtraining (Parkour…). Bäume, auf die man als Kind geklettert, oder Hügel, die man runtergekugelt ist. Das Maß an Angst, mit dem unsere Eltern uns großgezogen haben. Angst vor Schmerz. Und schließlich Faktoren wie unsere Fähigkeit neue Dinge zu erlernen, die maßgeblich davon beeinflusst wird, wie oft wir uns bereits die Zeit genommen haben, etwas neues zu lernen. Ich glaube, es gibt nicht immer einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen unseren Fähigkeiten und unserer Bewegungserfahrung. 

Die Bewegungspyramide ist also eher eine Art drei (vier?) dimensionales Netzwerk, aus Fähigkeiten und Fertigkeiten, das ähnlich eines Fraktals in immer weiteren Komplexitätsmustern aufgeht. 

Das Sierpinksi Triangle, als Beispiel für ein Fraktal. Wikipedia

Ich antworte auf die Frage nach meinem Beruf ganz selbstverständlich mit "Parkourtrainer". Doch was ist ein Parkourtrainer? Ich bewege mich in meiner Arbeit von Praxis und deren Reflexion, sowie in meinem damit einhergehenden Eigenstudium in Praxis (Training) und Theorie entlang einer Komplexitäts- und Bezugshierarchie (mikro zu makro und zurück), und entscheide immer wieder, welche Methoden ich verwenden möchte, um meinen Schűtzlingen Sprünge, Tricks, Runs, oder allgemeiner, Fähigkeiten beizubringen, ohne dabei Grundlegende Fertigkeiten außer Acht zu lassen. 

Ich verstehe, dass nicht ich, sondern alle Trainierenden sich selbst die besten Trainer sind und versuche ein Mindset zu etablieren, das eine gesunde Mischung aus Spaß und Arbeit beinhaltet, mit Rückschlägen klarkommt und Plateaus versteht und überwinden kann. 

Ich sehe Parkour als eine Disziplin, nicht unähnlich dem Skaten oder anderen normfreien Sportarten, die Menschen zwingt sich ihrer eigenen Intention zu stellen. 

Was will ich können? 

und 

Was bin ich bereit dafür zu tun? 

Ich glaube, dass Menschen, die Parkour trainieren nicht nicht bescheiden sein können. Gleichzeitig glaube ich, dass eine solche Disziplin ein gesundes Selbstvertrauen und ein klares Selbstbild fördert. 

Die meisten (und besten) Traceure, die ich kenne, machen sich wenig aus Misserfolg im Training. Scheitern gehört zu ihrem Alltag und sie verstehen, bewusst oder unbewusst, dass ein momentanes Nicht-Können lediglich Potential für Wachstum bedeutet. Gleichzeitig lieben sie es, Herausforderungen und Rätsel zu lösen und gehören zu den allgemein fähigsten und interessiertesten Menschen, die ich kenne. 

Ich glaube, dass Parkour ein ideales Mittel ist, um gesunde Erwachsene zu schaffen, die ihr Potential in die Welt tragen können. Die ein Verständnis für Prozesse besitzen und bereit sind, zu lernen und sich aus ihrer Komfortzone zu bewegen. 

Ich liebe es, Leuten dabei zuzusehen, wie sie ihre eigenen Erwartungen übertreffen. Daher bin ich dankbar für die Möglichkeiten, die sich mir aufgetan haben. Etwa: ein nerdiges Hobby zum Beruf zu machen, es zu analysieren und interpretieren und nun diese Plattform nutzen zu können, um mit anderen Trainern, und solchen die es werden wollen, ins Gespräch zu treten und sowohl über praktische, als auch philosophische Konsequenzen des Trainerdaseins zu schreiben. 

Wir leben in aufregenden Zeiten und es ist an uns, die Zukunft zu gestalten.

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