Grundlagenforschung

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Im letzten (ersten) Artikel habe ich versucht zu beschreiben, wie ich mir Bewegungspotential und einzelne Bewegungen als Teil des Bewegungsspektrums vorstelle. Dieses Mal gehen wir ein bisschen mehr ins Detail, umreißen ein paar grundlegende Begriffe und erläutern diese dann an einigen Beispielen, nur um festzustellen, dass Definitionen oft von der Betrachtungsweise abhängen. Eine Reise durch Mikros und Makros!

(Übrigens wurde mir von einem befreundeten Physiker Name-dropping vorgeworfen, was Fraktale angeht. Tatsächlich kann ich nicht behaupten, diese wirklich zu verstehen. Aber die Erkenntnis ist eine eigentlich ganz einfache: zu jeder Analyse-Ebene gibt es eine unbestimmte Anzahl von über- und untergeordneten Ebenen.) 

In unserer Szene gibt es seit jeher ein Verständnis für, etwa, zu große Sprünge. Anfängern wird dazu geraten, große Drops zu vermeiden, bevor sie dafür bereit sind. Soweit, so logisch, wenn auch etwas schwammig. Was bedeutet “bereit sein”? Wie erkennen wir, dass jemand nicht bereit ist? Und woher weiß ich, dass ich es bin? Und noch wichtiger, wie baue ich mir oder anderen ein stabiles Fundament und vermeide grobe Sicherheitslücken in meinem System? Sicher, für Sprünge gibt es sichtbare, relativ simpel zu erkennende Parameter, wie durchschlagende Fersen oder instabile Knie. Doch sollte unser Anspruch als Trainer höher sein und wir sollten, meiner Meinung nach, wissen, wie wir spezifische Kraftaspekte fördern können, um allgemeine Körper- bzw, Bewegungs- oder Gelenkintegrität zu wahren und zu fördern.

Ich will versuchen anhand von einem Beispiel zu verdeutlichen, von was für Grundlagen ich spreche. Wenn ich meine Sache richtig mache, versteht man vielleicht sogar, wie man die Grundidee auf beliebige andere Bewegungsideen übertragen kann. 

Nehmen wir einen Climb-Up. Eine Bewegung, die den meisten Anfängern sehr schwer fällt. An Mauern hängen und es nicht mal zu schaffen, sich zur Kante zu ziehen (ich vor 13 Jahren…), kann irgendwann nur noch für Frust sorgen. 

Machen wir uns die Einzelteile, aus denen sich so ein Climb-Up zusammensetzt, bewusst. 

An der Mauer hängen.

Hochziehen.

Irgendwie über die Mauerkante kommen???

Hochdrücken.

Stütz.

Soweit so gut. Es gibt zwei Kraftübungen, die den Teilbewegungen recht nahe kommen: Klimmzüge und Dips. Ziehen und Drücken. Wer ein wenig Erfahrung mit Workshops besitzt, weiß, dass die meisten Anfänger sich bereits mit Standard - Liegestützen schwer tun und oft keine Klimmzüge schaffen. Gehen wir also tiefer.

Was sind die Teilaspekte eines Klimmzugs? Zunächst muss ich mich erstmal festhalten und hängen können. Dann die Fähigkeit, die Schulter zu aktivieren und mit gestrecktem Arm zu ziehen (aktiver Hang). Nicht zu vergessen, Retraktion und Dekompression (siehe das Video von Dominik Sky weiter unten). Und schließlich, die Brust zur Stange zu ziehen.

Wie sieht es mit Dips aus?

Fähigkeit, zumindest einen Teil des Körpergewichts auf den Händen zu stützen. Schulter setzen. Drücken. Ich würde argumentieren, dass der Standard-Dip der Standard-Liegestütze übergeordnet ist. Ist der Dip zu schwer, übt man Liegestütze. Kann man keine richtigen Liegestütze, macht man sie auf den Knien. (Wer schon so viele Angehörige des männlichen Geschlechts gesehen hat, die keine richtigen Liegestütze können, weiß, der Begriff “Frauenliegestütze” ist einfach falsch und wird in meinen Trainings nicht toleriert.)

Dabei bleiben die Ellbogen nah am und hinter dem Körper, die Hände auf Brusthöhe unter dem Brustkorb. Bei der Ausführung soll es nicht zu Hohlkreuz oder anderen Kompensationsmustern kommen. Knackpunkt ist oft die Schulter. Hier erklärt euch Dominik Sky mehr dazu.

Nun ist selbst die Annahme, dass die Kraft für einen Climb-Up, oder seinen großen Bruder, den Muscle-Up, aus der Schulter kommt, nicht genau genug. Ohne Körperspannung, oder Core-Kraft, wird selbst das Hängen an der Mauer zur Herausforderung. Die gute Nachricht ist: jede Bewegung ist eine Core-Übung. Das heißt im Allgemeinen: alles, was uns auf irgendeine Art und Weise stärker macht, also herausfordert, macht uns stärker für nicht offensichtlich verwandte Bewegungen.

Es zeichnet sich also relativ klar eine Reihe von Bedingungen ab, die abgehakt werden müssen, um Fortschritt machen zu können. Ohne genauer darauf einzugehen, welche Übungen man in diesem Fall benutzen kann, um sie sich anzueignen, wird hoffentlich klar, es braucht ein gewisses Bewusstsein und die Bereitschaft, sich mit Teilbewegungen und Übungen auseinanderzusetzen, um komplexe und schwierige Fertigkeiten zu erlangen. 

Im Falle der Zieh- und Drückbewegungen ist unsere Schulter der Dreh- und Angelpunkt. Die Grundlage liegt also nicht in der Größe unseres Bizeps, sondern in unserer Schulter.

Man unterscheidet grob in “Fähigkeiten” und “Fertigkeiten”. Fähigkeiten ermöglichen uns, uns Fertigkeiten anzueignen (Remember: Hängen, Ziehen, Drücken werden zu ich fliege in einer Bewegung über die Mauer). Als Trainer ist es unsere Aufgabe dafür zu sorgen, dass unsere Trainierenden verstehen, in welcher Hierarchie Grundlagentraining und -beispielsweise- große Sprünge stehen. Das heißt nicht zwingend, dass Grundlagentraining zur langweiligen Pflicht werden muss. Ein Maß an Kreativität und Spaß an Challenges können Dich ein gutes Stück weiterbringen. Dazu verändert sich, je nach Betrachtungsebene, die Definition als das Eine oder Andere. Springen, Kleinmachen, Fallen und Rollen bilden die Basis für die “Fertigkeit” Backflip, in diesem Fall also “Fähigkeiten”. Aber der Backflip ist eine unumgängliche Fähigkeit auf dem Weg zu ihm übergeordneten Tricks wie Doppelsalto, Cast-Away oder Cody.

Training bedeutet ein konstantes Oszillieren zwischen Mikro- und Makro- Perspektiven, einen Blick fürs große Ganze beizubehalten und immer wieder ein kritisches Auge auf das zu werfen, was man als bereits gegeben betrachtet. Man könnte überrascht sein, welche Wahrheiten sich im Altbekannten verstecken.

Um den hier als Mittel-zum-Zweck benutzten Climb-Up Workshop abzuschließen: Teilbewegungen sind eben nur ein Teil einer jeweiligen übergeordneten, oder Zielbewegung. Langsame exzentrische (negative) Versionen von (zu) schweren Bewegungen (vgl.: Schweizer Handstand, Liegestütze, meine Bein-Reha in der Beinpresse,...) vervollständigen unsere Übungsreihe. Bei exzentrischen Kontraktionen ist das Kraftpotential höher, da man (einfach gesagt) der Schwerkraft nur nachgibt, anstatt sie zu überwinden. Dies erlaubt es uns, die Bewegung von Anfang bis Ende, mit Fokus auf Technik, zu durchlaufen, ohne sie in ihrer Endform zu beherrschen.

Too long; didn’t read: runterklettern bringt Dir hochklettern bei!

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